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Seneca: Vom glückseligen Leben
An
den Gallio.
I. (1.) Glückselig zu leben, mein Bruder Gallio, wünschen Alle, aber um
zu durchschauen, was es sei, wodurch ein glückseliges Leben bewirkt werde, dazu
sind sie zu blödsichtig. Und zu einem glückseligen Leben zu gelangen ist eine
so gar nicht leichte Sache, daß Jeder sich um so weiter davon entfernt, je
rascher er darauf losgeht, wenn er einmal den Weg verfehlt hat; denn führt
dieser nach der entgegengesetzten Seite, so wird gerade die Eile der Grund einer
immer größeren Entfernung. Man muß daher zuerst vor Augen stellen, was es sei,
worauf man sein Streben richtet; sodann hat man sich darnach umzusehen, auf
welchem Wege man am schnellsten dazu gelangen könne, indem man schon auf dem
Wege selbst, wenn er nur der rechte ist, einsehen wird, wie viel davon täglich
zurückgelegt werde und um wie viel näher man dem Ziele gekommen sei, zu dem
uns ein natürliches Verlangen hintreibt. (2.) So lange wir freilich überallhin
herumschweifen, keinem Führer folgend,
sondern dem verworrenen Gelärme und
Geschrei der uns nach ganz verschiedenen Seiten hin Rufenden, wird unser so
kurzes Leben unter [stetem] Irregehen verfließen, auch wenn wir uns Tag und
Nacht um eine richtige Ansicht bemühen. Daher entscheide man sich,sowohl wohin
man wolle, als auf welchem Wege, und nicht ohne einen kundigen [Führer], der
das, worauf wir zuschreiten, [bereits] erforscht hat, weil hier nicht dasselbe
Verhältniß Statt findet, wie bei den übrigen Reisen. Bei jenen lassen uns ein
Fußpfad, den man festhält, und Bewohner [der Gegend], die man befragt, nicht
irren, hier aber täuscht gerade der betretenste und besuchteste Weg am meisten.
(3.)
Deshalb haben wir auf Nichts mehr zu achten,
als daß wir nicht nach Art des Viehes der Schaar der Vorangehenden folgen,
fortwandernd nicht, wo man gehen soll, sondern wo [von Andern] gegangen wird.
Und doch verwickelt uns Nichts in größere Uebel, als daß wir uns nach dem
Gerede der Leute richten, indem wir das für das Beste halten, was mit großer
Zustimmung angenommen ist und wovon wir viele Beispiele haben, und daß wir
nicht nach Vernunftgründen, sondern nach Beispielen leben: daher jene gewaltige
Zusammenhäufung von Leuten, die Einer über den Andern hinfallen. (4.) Was bei
einem großen Menschengedränge der Fall ist, wo das Volk sich selbst drückt,
daß Niemand fällt, ohne noch einen Andern sich nachzuziehen und die Vordersten
den Folgenden verderblich werden, das kannst du im ganzen Leben sich ereignen
sehen: Niemand irrt nur für sich allein, sondern er ist auch Grund und Urheber
fremden Irrthums.
Denn es ist schädlich, sich den
Vorangehenden anzuschließen; und während ein Jeder lieber glauben, als
nachdenken will, so wird über das Leben nie nachgedacht; immer glaubt man nur [Andern],
und ein von Hand zu Hand fortgepflanzter Irrthum lenkt uns und stürzt uns [in's
Verderben]; durch fremde Beispiele gehen wir zu Grunde. (5.) Wir werden geheilt
werden, sobald wir uns nur vom großen Haufen absondern; so aber steht der
Volkshaufe, der Vertheidiger seines eigenen Verderbens, der Vernunft feindlich
gegenüber.
Und so geht es denn wie in den
Wahlversammlungen,wo sich dieselben Leute darüber verwundern, daß Einer
Prätor geworden, die ihn selbst dazu gemacht haben, wenn sich wandelbare
Volksgunst gedreht hat. Eben dasselbe billigen, eben dasselbe tadeln wir: das
ist der Ausgang eines jeden Gerichtes, wobei nach der Mehrzahl entschieden wird.
II. (1.) Wenn es sich um ein glückseliges Leben handelt, darfst du mir
nicht mit jener Aeußerung bei Senatsabstimmungen antworten: »Dieser Theil
scheint der größere zu sein«. Denn eben deshalb ist er der Schlimmere. Es
steht mit der Sache der Menschheit nicht so gut, daß das Bessere der Mehrzahl
gefällt; ein großer Haufe ist ein Beweis vom Schlechtesten. Laß uns daher
fragen, was am Besten zu thun sei, nicht was am gewöhnlichsten geschehe, und
was uns in den Besitz eines ewigen Glücks setze, nicht was dem großen Haufen,
dem schlechtesten Dolmetscher der Wahrheit, genehm sei. Den großen Haufen aber
nenne ich eben sowohl die Leute mit Kronen, als die im Flausrock. (2.) Denn ich
sehe nicht auf die Farbe der Kleider, womit die Leiber geziert sind; den Augen
traue ich nicht [bei einem Urtheil] über den Menschen. Ich habe ein besseres
und zuverlässigeres Licht, worin ich das Wahre vom Falschen unterscheiden kann.
Des Geistes Werth finde [auch] der Geist auf. Wenn dieser einmal Zeit gewinnt
sich zu erholen und in sich selbst zurückzuziehen, o wie wird er, von sich
selbst gefoltert, sich die Wahrheit gestehen und fragen: »Alles, was ich bisher
gethan, möchte ich lieber ungeschehen wissen; wenn ich an Alles zurückdenke,
was ich gesprochen habe, so lache ich über Vieles; Alles, was ich gewünscht
habe, dünkt mir ein Fluch von Feinden, Alles, was ich gefürchtet, o ihr guten
Götter, wie viel leichter [zu ertragen] war es, als das, was ich wünschte?
(3.) Mit Vielen habe ich in Feindschaft gelebt und bin aus dem Hasse, wenn es
anders unter Schlechten Freundschaft gibt, wieder zur Freundschaft
zurückgekehrt; mir selbst [aber] bin ich noch kein Freund. Ich habe mir alle
Mühe gegeben, mich aus der Menge hervorzuheben und durch irgend ein Talent
bemerkbar zu machen; was Anderes habe ich davon, als daß ich mich den
Geschossen ausgesetzt und dem Uebelwollen gezeigt habe, wo es mich packen könne?
Siehst du jene Leute, die deine Beredtsamkeit preisen, deinem Reichthum
nachgehen, um deine Gunst buhlen, deine Macht [in den Himmel] erheben? Sie alle
sind deine Feinde, oder, was gleich ist, können es sein. Wie groß die Schaar
der Bewunderer, so groß ist die der Neider.«
III.
(1.) Nun so will ich lieber Etwas suchen, was erprobt gut ist und wovon ich
einen Genuß habe, nicht womit ich prunken könne; das, was man anschaut, wovor
man stehen bleibt, was Einer dem Andern mit Erstaunen zeigt, das glänzt von Außen,
inwendig [aber] ist's elend beschaffen. Laß uns [vielmehr] Etwas suchen,
das nicht [blos] dem äußern Scheine nach gut, sondern gehaltvoll,
gleichförmig und auf der verborgenen Seite selbst noch schöner ist.
Das laß uns ausfindig machen; und es liegt
nicht fern;es wird sich finden lassen; nur muß man wissen, wohin man die Hand
ausstrecken soll. Jetzt gehen wir wie im Finstern am Naheliegenden vorüber und
stoßen just an das an, was wir sehnlich verlangen. (2.) Doch um dich nicht auf
Umwegen herumzuschleppen,will ich die Ansichten Andrer übergehen; denn es wäre
zu weitläufig sie aufzuzählen und zu widerlegen.Hier hast du die unsrige. Wenn
ich aber sage »die unsrige,« so binde ich mich nicht an Einen von den
Häuptern der Stoa; auch ich habe das Recht meine Meinung auszusprechen. Daher
werde ich dem Einen beipflichten, einem Andern seine Ansicht im Einzelnen
entwickeln heißen; vielleicht werde ich auch, nach allen Andern zum Sprechen
aufgefordert, Nichts von dem, was meine Vorgänger entschieden haben, verwerfen
und [blos] sagen: »Meine Meinung ist außerdem noch folgende.« Inzwischen
stimme ich, worin alle Stoiker Eins sind, der Natur bei; von ihr nicht abzuirren
und sich nach ihrem Gesetz und Beispiel zu bilden, ist Weisheit. (3.)
Glückselig also ist ein Leben, welches mit seiner Natur in Einklang steht;dies
aber kann uns nicht anders zu Theil werden, als wenn zuerst der Geist gesund und
in beständigem Besitz seiner Gesundheit ist; sodann wenn er kräftig und
entschlossen, zudem sittlich rein und geduldig ist, sich den Zeitumständen
fügt und für den Körper und alles dazu Gehörige besorgt ist, jedoch ohne
Aengstlichkeit; ferner achtsam auf die übrigen Dinge, die zum Leben gehören,
ohne Bewunderung irgend eines derselben, bereit die Gaben des Glückes zu
benutzen, aber nicht ihnen zu fröhnen. (4.) Du siehst, auch ohne daß ich es
hinzufüge, ein, dem müsse [auch] eine beständige Ruhe und Freiheit folgen, da
Alles verbannt ist, was uns entweder reizt oder schreckt. Denn an die Stelle der
sinnlichen Genüsse und alles dessen, was kleinlich und hinfällig und gerade in
seinen Schändlichkeiten unheilbringend ist, tritt eine unendlich große,
unerschütterliche und sich gleich bleibende Freude, ferner Friede und Harmonie
der Seele und Größe derselben mit Sanftmuth gepaart; alle Rohheit nämlich
rührt [nur] aus Schwäche her.
IV. (1.) Der Begriff unseres [höchsten] Gutes läßt sich auch noch
anders bestimmen, d.h. der Gedanke bleibt derselbe, wird aber in andere Worte
gefaßt.
Gleichwie ein und dasselbe Heer bald weiter
ausgebreitet, bald in's Enge zusammengezogen, und entweder mit eingebogenem
Centrum zu einem Halbkreis formirt, oder in gerader Linie aufgestellt wird, wie
es aber auch geordnet sei, seine Kraft und sein Wille für dieselbe Partei zu
stehen derselbe bleibt: so kann auch die Begriffsbestimmung des höchsten Gutes
bald verbreitert und ausgedehnt, bald zusammengefaßt und eingeschränkt werden.
(2.) Es wird also ganz dasselbe sein, wenn ich sage: Das höchste Gut ist eine
das Zufällige geringschätzende, ihrer Tugend frohe Seele, oder: eine
unüberwindliche Kraft der Seele, voll Erfahrung, ruhig im Handeln, reich an
Menschenliebe und Sorge für die, mit denen man lebt. Man mag den Begriff auch
so bestimmen, daß man denjenigen Menschen einen glückseligen nennt, dem Nichts
ein Gut oder ein Uebel ist, als eine gute oder schlechte Seele, der ein Verehrer
des Sittlichguten ist, dem seine Tugend genügt, den Zufälliges weder erhebt
noch niederschlägt; (3.) der kein größeres Gut kennt, als was er sich selbst
geben kann, dem die Verachtung der Wollust ist. Will man noch weiter schweifen,
so kann man eben demselben Begriffe noch eine und die andere Form geben, ohne
daß der Sinn verletzt oder beeinträchtigt wird. Denn was hindert uns zu sagen,
ein glückseliges Leben sei ein freier, hochgesinnter, unerschrockener und
standhafter, über Furcht und Begierden erhabener Geist, für den es nur ein Gut
gibt, Sittlichkeit, und nur ein Uebel, Unsittlichkeit? (4.)
Alles Uebrige ist ein werthloser Wust von
Dingen, die dem glückseligen Leben weder irgend etwas entziehen, noch beifügen,
und ohne Vermehrung oder
Verminderung des höchsten Gutes kommen und
gehen. Wenn dieses eine solche Grundlage hat, dann muß es, mag es wollen oder
nicht, ununterbrochne Heiterkeit und hohe und dem Innersten entspringende Freude
begleiten, die sich ja [nur] des Ihrigen erfreut und nichts Größeres wünscht,
als was [schon] ihr Eigenthum ist. Wie sollte dies nicht die kleinlichen,
armseligen und unbeharrlichen Triebe des elenden Körpers reichlich aufwiegen?
An dem Tage, wo man dem Sinnengenusse unterliegt, wird man auch dem Schmerze
unterliegen.
V.
(1.) Du siehst aber, in welch' einer schlimmen und unheilvollen Knechtschaft
Einer stehen würde, den Sinnenlust und Schmerzen, die unzuverlässigsten und
zügellosesten Herren, abwechselnd in Besitz hätten. Daher muß man sich
losringen zur Freiheit; diese [aber] gewährt nichts Anderes, als
Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Dann wird jenes unschätzbare Gut
erwachsen, eine sicher gestellte Ruhe und Erhabenheit der Seele, eine nach
Vertreibung alles Erschreckenden aus der Erkenntniß der Wahrheit entspringende
hohe und ungestörte Freude, eine [stete]
Freundlichkeit und Heiterkeit des Gemüths;
und daran wird es sich erfreuen, nicht als an Gütern, sondern als an Früchten
seines eigenen Schatzes. (2.) Weil ich nun einmal [mit Begriffsbestimmungen]
freigebig zu sein angefangen habe, [so definire ich weiter]: glückselig kann [auch]
der genannt werden, der unter gütiger Leitung der Vernunft weder begehrt, noch
fürchtet. Weil auch die Steine ohne Furcht und Traurigkeit sind und ebenso die
Thiere, so wird sie doch deshalb Niemand glückselig nennen, da sie keine
Erkenntniß ihrer Glückseligkeit haben. Dieselbe Stelle [aber] weise auch den
Menschen an, welche ihr Stumpfsinn und ihr Mangel an Selbsterkenntniß der Zahl
des Vie-hes und der Thiere beigesellt. (3.) Es ist kein Unterschied zwischen
Diesen und Jenen, weil diese gar keine Vernunft haben, jene aber eine falsche
und zu ihrem eignen Schaden und auf verkehrtem Wege erfinderische. Glückselig
nämlich kann Niemand genannt werden, der so außer aller Wahrheit steht; ein
glückseliges Leben ist also ein auf einem richtigen und sichern Urtheil
ruhendes und unveränderliches.
Dann nämlich ist die Seele rein und frei
von allen Uebeln, wenn sie nicht nur Verletzungen, sondern auch Neckereien
entgangen ist, (4.) entschlossen, stets stehen zu bleiben, wo sie einmal Stand
gefaßt hat, und ihren Platz auch gegen ein erzürntes und anfeindendes Geschick
zu behaupten. Denn was die Sinnenlust betrifft, mag sie sich von allen Seiten
her um uns ergießen, auf allen Wegen heranströmen und der Seele mit ihren
Reizungen schmeicheln, mag sie ein Mittel nach dem andern anwenden, um unser
ganzes Wesen und die einzelnen Theile desselben zu reizen, welcher Sterbliche,
an dem nur noch eine Spur vom Menschen geblieben, würde wohl Tag und Nacht
gekitzelt sein wollen, um mit Verwahrlosung der Seele dem Körper zu fröhnen?
VI. (1.) »Aber auch die Seele, sagt man, wird doch ihre Genüsse haben.«
Mag sie solche haben und Schiedsrichterin über Ueppigkeit und Freudengenüsse
sein, mag sie sich anfüllen mit allem dem, was die Sinne zu ergötzen pflegt;
darnach mag sie auf das Vergangene zurückschauen und der genossenen sinnlichen
Freuden eingedenk über die früheren frohlocken, und nach den kommenden schon
begierig verlangen, ihre Hoffnungen ordnen, und während der Körper schon jetzt
auf der Mast liegt, ihre Gedanken im Voraus auf das Zukünftige lenken: sie wird
mir dann um so elender erscheinen, weil Schlechtes statt Gutem zu wählen
Wahnsinn ist. (2.) Weder kann irgend Jemand ohne gesunden Verstand glückselig
sein, noch gesunden Verstandes, wenn er nach dem Zukünftigen als nach dem
Besten trachtet. Glückselig also ist, wer ein richtiges Urtheil hat,
glückselig ist, wer mit dem Gegenwärtigen, wie es auch immer sei, zufrieden
und mit seinen Verhältnissen befreundet ist, glückselig ist der, dessen ganze
Lage seine Vernunft billigt; er sieht auch, welch' eine schimpfliche Stelle
diejenigen dem höchsten Gute angewiesen, die es in jene [sinnlichen Genüsse]
setzen. Sie sagen daher, das Vergnügen könne von der Tugend nicht getrennt
werden und behaupten, es könne weder Jemand sittlich gut leben, ohne zugleich
angenehm, noch angenehm, ohne zugleich sittlich gut zu leben. (3.) Ich begreife
nicht, wie man diese so ganz verschiedenen Dinge in Eins zusammenwerfen kann.
Warum soll denn, ich bitte Euch, das sinnliche Vergnügen von der Tugend nicht
getrennt werden können? Offenbar [sagt ihr], weil jedes Gut seine Quelle in der
Tugend hat. [Allerdings] entstammt diesen Wurzeln auch das, was Ihr liebet und
verlanget; allein wenn jene Dinge unzertrennlich wären, so würden wir nicht
Manches sehen, was angenehm, aber nicht sittlich gut, Manches dagegen, was
höchst sittlich, aber unangenehm und [nur] durch Schmerzen zu erringen ist.
VII.
(1.) Nimm noch hinzu, daß sinnliche Lust sich auch zu dem schändlichsten Leben
gesellt, die Tugend aber ein schlechtes Leben gar nicht zuläßt, und Manche
nicht ohne Sinnenlust, ja gerade der Sinnenlust wegen unglücklich sind; was
nicht der Fall sein würde, wenn sich mit der Tugend die Sinnenlust verschmolzen
hätte, welche der Tugend oft fehlt, ihr aber nie Bedürfniß ist. Warum stellt
ihr Unähnliches, ja ganz Verschiedenes zusammen? Die Tugend ist etwas Hohes,
Erhabenes, Königliches, Unüberwindliches, Unermüdliches; das sinnliche
Vergnügen etwas Niedriges, Sklavisches, Ohnmächtiges, Hinfälliges, dessen
Aufenthalt und Heimat Hurenhäuser und Garküchen sind. (2.) Die Tugend wirst du
im Tempel finden, auf dem Forum, in der Furie, vor den Mauern stehend, mit Staub
bedeckt, von frischer Gesichtsfarbe, mit schwieligen Händen; das sinnliche
Vergnügen öfters versteckt und die Finsterniß suchend, um Badehäuser und
Schwitzstuben und Orte her, die den Adel fürchten, weichlich, entnervt, von
Wein und Salben trie-fend, bleich oder geschminkt und durch Schönheitsmittel
zugestutzt. (3.) Das höchste Gut ist unsterblich, es kann nicht untergehen, es
bringt weder Ueberdruß noch Neue mit sich; denn der rechte Sinn wandelt sich
nie, noch ist er sich selbst zuwider, und da er der beste ist, hat er auch an
sich nie Etwas geändert. Das sinnliche Vergnügen aber erlischt gerade dann,
wenn es am höchsten ergötzt; es hat keinen weiten Spielraum; daher füllt es
ihn auch schnell aus, verursacht Ueberdruß und ermattet nach dem ersten Anlauf.
Auch ist eine Sache nie zuverlässig, deren
Natur in [beständiger] Bewegung ist; und so kann auch das nichts Wesentliches
sein, was ebenso schnell vorübergeht, als kommt, und während seines Genusses
selbst zerrinnt. Denn es gelangt zu dem Punkte, wo es aufhören muß, und indem
es beginnt, deutet es [schon] auf sein Ende hin.
VIII.
(1.) Und haben den Genuß des sinnlichen Vergnügens die Schlechten nicht ebenso
wohl als die Guten? auch ergötzen die Lasterhaften ihre Schändlichkeiten nicht
weniger, als die Sittlichguten ihre edeln Thaten. Daher schrieben die Alten vor,
man solle dem besten, nicht dem angenehmsten Leben nachgehen, so daß das
Vergnügen nicht der Führer, sondern der Begleiter einer rechtschaffenen und
edeln Gesinnung sein soll. Denn die Natur muß man zur Führerin nehmen; auf sie
richtet die Vernunft ihr Augenmerk, bei ihr holt sie sich Rath. Glückselig
und naturgemäß leben ist also eins und dasselbe. (2.) Was dies [letztere] heiße,
will ich jetzt erklären. [Wir leben also naturgemäß] wenn wir die körperlichen
Gaben und was unsrer Natur angemessen ist, sorgfältig und unerschrocken hüten
als Etwas, das uns [nur] auf Zeit gegeben und flüchtig ist, wenn wir uns nicht
in ihre Sklaverei begeben und nicht etwas unserm Wesen Fremdes uns in seine
Gewalt gebracht hat, wenn das, was dem Körper angenehm ist und uns von Außen
zukommt, in unsern Augen dasselbe gilt, was im Lager die Hülfsvölker und
leichten Truppen. Selbiges mag uns dienen, aber nicht gebieten; nur dann
ist es unserm geistigen Wesen von Nutzen. Ein Mann bleibe von Aeußerlichkeiten
unverführt und unüberwältigt, nur ein Bewunderer seiner selbst, voll
Zuversicht des Herzens, auf beide Fälle gerüstet, und der eigne Bildner seines
Lebens. Sein Selbstvertrauen sei nicht ohne Einsicht, seine Einsicht nicht ohne
Festigkeit; er halte fest an dem einmal Gutgeheißenen und in seinen
Entschlüssen finde keine Aenderung Statt. (3.) Man wird, auch wenn ich es nicht
[ausdrücklich] hinzufüge, einsehen, daß ein solcher Mann geregelt und
geordnet sein werde und in dem, was er thut, hochherzig und mild zugleich. Eine
gesunde Vernunft wird mit einen Empfindungen verwachsen sein und davon ausgehen,
denn er hat nichts Anderes, wovon er bei seinen Handlungen ausgehe, woher er den
Antrieb zur Wahrheit nehme und wodurch er zur Rückkehr zu sich selbst
veranlaßt werde. Denn auch die das ganze Weltall, [kurz] Alles umfassende,
Alles regierende Gottheit richtet zwar ihre Thätigkeit nach Außen, kehrt aber
doch im Ganzen von überall her in sich selbst zurück. (4.) Dasselbe soll unser
Geist thun, wenn er, seinen Gefühlen folgend, durch dieselben sich auf die
Außenwelt gerichtet hat; es sei sowohl ihrer als seiner selbst mächtig. Auf
diese Weise wird zugleich eine Macht und Gewalt geschaffen werden, die mit sich
selbst in Einklang steht, und jene sichere,in Meinungen, Begriffen und
Ueberzeugungen weder sich widersprechende noch schwankende Vernunftansicht
hervorgehen. Hat sich diese geordnet, allen Theilen nach in Uebereinstimmung
gebracht und, so zu sagen, einen harmonischen Einklang gebildet, dann hat sie
das höchste Gut erreicht. (5.) Denn nichts Verkehrtes, nichts Unhaltbares ist
mehr übrig, Nichts, wobei [der Mensch] straucheln oder wanken könnte.
Dann wird er Alles nach seinem eignen
Befehle thun und Nichts wird ihm unerwartet begegnen: sondern Alles, was er thut,
wird leicht und rasch und ohne Zögern des Handelnden einen günstigen Ausgang
haben. Denn Verdrossenheit und Unschlüssigkeit verräth einen Kampf und
Uneinigkeit mit sich selbst. Daher kann man dreist behaupten, das höchste Gut
sei Eintracht des Gemüths mit sich selbst. Denn da werden Tugenden vorhanden
sein müssen, wo Uebereinstimmung und Einigkeit ist; [nur] die Laster sind in
Zwiespalt mit einander.
IX.
(1.) »Aber auch du, wendet man ein, pflegt der Tugend nur deshalb, weil du
irgend ein Vergnügen von ihr hoffst.« Zuerst wird die Tugend, auch wenn
sie ein Vergnügen gewähren wird, doch
nicht seineteegen erstrebt; denn sie gewährt es nicht [allein], sondern sie
gewährt es mit, und sie bemüht sich nicht darum, sondern ihre Bemühung wird,
obgleich sie etwas ganz Anderes erstrebt, auch dieses mit erreichen. So wie auf
dem Felde, das man für die Saat aufgepflügt hat, zwischen dieser auch manche
Blumen mit aufwachsen, und man doch nicht dieser Pflänzchen wegen, so sehr sie
auch das Auge ergötzen mögen, so viel Mühe aufgewendet hat, (2.) - die
Absicht des Säemannes war eine andre, dies ist [nur] hinzugekommen -: so ist
auch das Vergnügen nicht der Lohn, noch der Beweggrund der Tugend, sondern eine
Zugabe; denn weil es ergötzt, gefällt es, wenn es aber gefällt, so ergötzt
es auch. Das höchste Gut liegt in dem Bewußtsein und dem Wesen einer völlig
edelnSeele, und wenn diese ihre Aufgabe erfüllt und sich in ihre Grenzen
eingeschlossen hat, so ist das höchste Gut vollständig errungen und sie
verlangt Nichts weiter. Denn über das Ganze hinaus gibt es Nichts, so wenig als
über das Ende hinaus. Daher bist
du schon
im Irrthum,
wenn du fragst, was es sei, weshalb ich nach der Tugend strebe; denn du fragst
nach Etwas, das über dem Höchsten stände. (3.) Du fragst, welchen
Gewinn ich aus der Tugend ziehen will? Sie selbst; denn sie hat nichts Besseres,
sie ist sich selbst ihr Preis. Ist das etwa nicht großartig genug? Wenn ich dir
sage: das höchste Gut ist eine unbeugsame Beharrlichkeit, Vorsicht, Schärfe,
Gesundheit, Freiheit, Harmonie und Schönheit der Seele, verlangst du dann noch
etwas Größeres, worauf jenes alles abzielen müsse? Was
erwähnst du mir das sinnliche Vergnügen? Des Menschen Glück suche ich,
nicht des Bauches, der beim Vieh und bei Bestien geräumiger ist.
X. (1.) »Du stellst dich, sagt man, als verständest du nicht, was ich
sage. Ich behaupte ja, es könne Niemand angenehm leben, wenn er nicht zugleich
sittlich
gut lebt. Dies aber kann nicht den
sprachlosen Thieren begegnen, noch denen, die ihr Glück nach den Speisen
abmessen. Klar und offen bezeuge ich, daß das Leben, welches ich ein angenehmes
nenne, Niemandem zu Theil werden kann, wenn ihm nicht Tugend beigesellt ist.«
Allein wer weiß nicht, daß auch die größten Thoren alle im vollsten Genusse
eurer sinnlichen Freuden sind? daß die Schlechtigkeit Ueberfluß an Angenehmem
hat und daß die Seele selbst nicht blos schlecht, sondern sogar viele schlechte
Arten des Vergnügens verschaffe? (2.) besonders Uebermuth,
Selbstüberschätzung und Aufgeblasenheit, die sich über alle Anderen erhebt,
und blinde, umsichtlose Vorliebe für das Eigene, zerfließende Weichlichkeit,
ausgelassene Freude aus den kleinlichsten und [völlig] kindischen
Veranlassungen, ferner Geschwätzigkeit und an Schmähungen sich ergötzenden
Stolz, Unthätigkeit und Zerfahrenheit eines trägen, über sich selbst
einschlafenden Geistes. (3.)Dies Alles beseitigt die Tugend; sie zupft dich beim
Ohre und prüft erst den Weg des Vergnügens, ehe sie es zuläßt, und wenn sie
auch Eins und das Andere gebilligt hat, so legt sie doch keinen Werth darauf (genug,
daß sie es zuläßt) und ist nicht über den Genuß desselben, sondern über
die Mäßigung darin erfreut. Wenn aber die Mäßigung das Vergnügen
vermindert, so ist sie ja ein Frevel am höchsten Gut. Du umfassest das
Vergnügen, ich beschränke es; du genießest das Vergnügen, ich mache Gebrauch
davon; du hältst es für das höchste Gut, ich nicht einmal für ein Gut; du
thust Alles des Vergnügens wegen, ich Nichts. Wenn ich sage, daß ich Nichts
des Vergnügens wegen thue, so spreche ich dies im Sinne des Weisen, dem du doch
allein Vergnügen zugestehst.
XI. (1.) Den aber nenne ich nicht einen Weisen, über welchem noch irgend
Etwas steht, geschweige gar das Vergnügen. Wenn er nun aber von diesem
eingenommen ist, wie wird er der Anstrengung und Gefahr, der Armuth und so
vielen Drohungen, die des Menschen Leben umschwirren, Widerstand leisten? wie
wird er den Anblick des Todes, wie den des Schmerzes ertragen? wie das Krachen
der Welt und eine solche Menge der heftigsten Feinde? etwa als ein von einem [so]
weichlichen Gegner Besiegter? Alles,
was das Vergnügen ihm anrathen wird, wird
er thun.
Ei nun, siehst du nicht, wie Vieles dasselbe
anrathen wird? »Es kann, sagt man, nichts Schimpfliches anrathen, weil es der
Tugend beigesellt ist.« Nun da siehst du abermals, was für ein höchstes Gut
das ist, dem ein Wächter von Nöthen, damit es ein Gut sei. (2.)
Wie aber wird die Tugend ein Vergnügen
beherrschen können, dem sie nachgeht, da das Nachgehen Sache des Gehorchenden,
das Beherrschen aber Sache des Gebietenden ist? Stellest du das hinten hin, was
gebietet? Ein vortreffliches Amt aber hat bei Euch die Tugend, das Vergnügen
vorher zu kosten! Doch wir werden sehen, ob sich bei denen, welche die Tugend so
schmählich behandeln, noch Tugend findet, die doch ihren Namen nicht mehr
führen kann, wenn sie ihre Stelle aufgegeben hat. Unterdessen will ich dir, um
was es sich ja [eigentlich] handelt, Viele zeigen, die von Vergnügungen umringt
sind, auf welche das Glück alle seine Gaben ausgeschüttet hat, und von denen
du doch eingestehen mußt, daß sie schlechte Menschen sind. (3.) Betrachte
einen Nomentanus und Apicius, welche die Güter der Länder und Meere, wie sie
es nennen, zusammenlesen und die Thiere aller Nationen über Tische mustern.
Siehe, wie Ebendieselben von ihrem Rosenlager aus nach ihrer Küche blicken,
indem sie ihre Ohren an den Tönen des Gesanges, ihre Augen an Schauspielen,
ihren Gaumen an Leckerbissen weiden. Mit sanften und linden Wärmemitteln wird
ihr ganzer Körper gereizt, und damit unterdessen auch die Nase nicht feiere, so
wird der Ort selbst, wo man der Ueppigkeit opfert, mit mancherlei Wohlgerüchen
erfüllt. Von diesen wirst du doch gewiß sagen, daß sie im Vergnügen leben,
und doch wird ihnen nicht wohl sein, weil sie ihre Freude an Etwas haben, was
kein Gut ist.
XII. (1.) »Es wird ihnen allerdings nicht wohl sein, erwidert man, weil
so Manches dazwischen kommt, was ihren Geist verwirrt, und einander
widersprechende Meinungen ihr Gemüth beunruhigen.« Das gebe ich zu; nichts
destoweniger aber werden selbst jene thörichten, unbeständigen und den Stichen
der Reue ausgesetzten Menschen großes Vergnügen genießen, so daß man
einräumen muß, sie seien ebenso weit von allem Ungemach entfernt, wie von
einer Gemüthsverfassung, und daß sie, was den Meisten begegnet, in einem
heitern Wahnsinn leben und toll sind unter Lachen. (2.) Die Vergnügungen der
Weisen dagegen sind mäßig, bescheiden und fast matt und gedämpft und kaum
äußerlich bemerkbar, da sie ja weder herbei gerufen kommen, noch, wenn sie
auch von selbst gekommen sind, in besonderm Werthe stehen oder von den sie
Genießenden mit irgend welcher Freude empfangen werden; denn sie mischen und
schalten sie dem Leben ein, wie Spiel und Scherz unter den Ernst. Mögen sie
also aufhören das nicht Zusammenpassende zu verbinden und in die Tugend
Vergnügen zu verflechten, durch welchen Fehler sie [nur] den Schlechtesten
schmeicheln. Jener, der sich in Vergnügungen stürzt, immer rülpsend und
berauscht, glaubt, weil er in vergnügen zu leben versteht, auch in Tugend zu
leben; denn er hört ja, das Vergnügen lasse sich von der Tugend nicht trennen;
dann gibt er seinen Lastern den Titel der Weisheit und bekennt sich laut zu
Dingen, die er verbergen sollte. So führen sie denn ihr üppiges Leben, nicht
vom Epikur veranlaßt, sondern den Lastern ergeben verstecken sie ihre
Ueppigkeit im Schooße der Philosophie und laufen dahin zusammen, wo sie das
Vergnügen preisen hören. (4.) Und man schätzt den Werth jenes Vergnügens des
Epikur (denn wahrhaftig so denke ich) nicht [berücksichtigend], wie nüchtern
und trocken es sei; sondern zu seinem Namen eilt man herbei, indem man für
seine Lüste irgend einen Schirm und Schleier sucht. So verlieren sie auch noch
das einzige Gute, was sie bei ihrer Schlechtigkeit hatten, die Scheu zu
sündigen. Denn [nun] loben sie das, worüber sie erröthen sollten, und rühmen
sich des Lasters; und daher kann sich auch die Jugend nicht wieder aufraffen, da
der schändliche Müßiggang einen ehrbaren Titel bekommen hat.
XIII. (1.) Das ist der Grund, warum jenes Lobpreisen des Vergnügens
verderblich ist, weil sich nämlich die sittlich guten Vorschriften im Innern
[der Lehre] verbergen, das Verführerische aber [Allen] sichtbar ist. Ich nun
bin der Meinung (die ich, auch wenn es meinen Genossen nicht recht sein sollte,
hier aussprechen will), daß Epikur reine und richtige Vorschriften ertheilt,
ja, wenn man näher hinzutritt, sogar strenge; denn jenes Vergnügen kommt auf
etwas sehr Kleines und Winziges hinaus und dasselbe Gesetz, das wir für die
Tugend aufstellen, stellt er für das Vergnügen auf. (2.) Er befiehlt, daß es
der Natur gehorche; was aber der Natur genügt, ist für die Ueppigkeit viel zu
wenig.
Wie steht es also? Jeder, der träge Muße
und abwechselnde Genüsse des Gaumens und der Wollust Glückseligkeit nennt,
suchte für eine schlechte Sache einen guten Gewährsmann, und während er, von
einem schmeichelnden Namen angezogen, zu ihm kommt, geht er dem Vergnügen nach,
nicht dem, von welchem er [sprechen] hört, das er [schon] mitbrachte; und hat
er einmal angefangen zu glauben, seine Laster stimmten zu den Lehren, so fröhnt
er ihnen nicht [mehr] schüchtern noch geheim; nein er schwelgt von da an mit
frei erhobenem Haupte. Daher sage ich nicht, wie die Meisten der Unsrigen,
Epikur's Schule sei eine Lehrerin schändlicher Handlungen, sondern das sage ich:
sie steht in einem schlechten Rufe, sie ist verschrieen, doch mit Unrecht. (3.)
Wer kann das wissen, als ein völlig Eingeweihter? Schon das Aeußere selbst
gibt Veranlassung zum Gerede und veranlaßt zu schlimmen Erwartungen. Es ist
gerade so, wie ein tapferer Mann in ein Frauenkleid gesteckt. Wenn du dir gleich
bleibst, so ist [der Glaube an] die Wahrheit deiner Keuschheit gerettet; nie
gibst du deinen Körper der Entehrung Preis, aber [dennoch] führst du in der
Hand das Tambourin. Wähle man also einen ehrbaren Namen und eine Aufschrift,
die selbst [schon] das Gemüth anregt die Laster wegzutreiben, welche sogleich
entnerven, wenn sie angezogen kommen. (4.) Jeder, der zur Tugend hingetreten ist,
gibt Hoffnung auf eine edle Natur, wer [aber] dem sinnlichen Vergnügen nachgeht,
der erscheint als ein entnervter, gebrochner, entarteter Mann, der [gewiß] dem
Schandbaren verfallen wird, wenn ihm nicht Jemand den Unterschied der
Vergnügungen auseinandersetzt, damit er erfahre, welche davon innerhalb der
Schranken des natürlichen Verlangens stehen bleiben, und welche kopfüber
stürzen und kein Ziel finden, sondern um so unersättlicher werden, je mehr
ihnen gewährt wird. Wohlan denn, die Tugend gehe uns voran: dann wird jeder
Schritt ein sichrer sein. Auch schadet übertriebenes Vergnügen: bei der Tugend
aber ist nichts zu befürchten, daß irgend Etwas übertrieben sei, weil das
Maß in ihr selbst liegt. Das ist kein Gut, was durch seine eigne Größe zu
leiden hat.
XIV. (1.) Was ferner kann denen, die eine auf Vernunft gegründete Natur
empfangen haben, Besseres geboten werden, als die Vernunft? Und wenn dir diese
Verbindung lieb ist, [wenn es dir gefällt, in dieser Begleitung den Weg zu
einem glückseligen Leben zu wandeln], so gehe die Tugend voran, das Vergnügen
[aber] begleite dich und umschwebe den Körper, wie der Schatten. Die Tugend,
das Erhabenste von Allem, dem Vergnügen als Magd dahinzugeben, ist Sache eines
Menschen, dessen Geist nichts zu fassen vermag. Die Tugend sei [stets] voran,
sie trage die Fahne: wir werden nichts desto weniger Vergnügen haben, aber
Gebieter und Regierer desselben sein; es wird durch Bitten Einiges von uns
erlangen, aber Nichts erzwingen. (2.) Diejenigen jedoch, welche dem Vergnügen
die erste Stelle eingeräumt haben, entbehren Beides; denn die Tugend lassen sie
fahren, das Vergnügen aber haben nicht sie, sondern das Vergnügen hat sie
selbst, und sie werden entweder durch Mangel daran gequält, oder durch
Ueberfluß erstickt.
O die Unglücklichen, wenn sie davon
verlassen, die noch Unglücklicheren, wenn sie damit überschüttet werden! so
wie die in ein Meer voll Untiefen Gerathenen bald auf dem Trocknen sitzen
bleiben, bald auf reißenden Wogen hin und her treiben. (3.) Dies aber begegnet
bei zu großem Mangel an Mäßigung und Vorliebe für etwas Eiteles; denn für
den, welcher Schlechtes statt Gutem erstrebt, ist es gefährlich es zu erreichen.
Wie wir auf wilde Thiere mit Anstrengung und Gefahr Jagd machen und selbst, wenn
sie gefangen, ihr Besitz eine mißliche Sache ist (denn oft zerfleischen sie
ihre Herzen): so pflegen die, welche großes Vergnügen haben, in großes Uebel
zu gerathen und die erjagten Vergnügungen haben sie gefangen genommen. Je
zahlreicher und größer diese sind, desto kleiner und desto Mehrer Sklav ist
der, welchen der große Haufe glücklich nennt. (4.) Ich will noch länger bei
diesem Bilde verweilen. Gleichwie der [Jäger], welcher die Lagerstätten des
Wildes aufspürt, und hohen Werth darauf legt, »das Wild in der Schlinge zu
fahn« und »rings mit Hunden den mächtigen Forst zu umstellen« um ihrer Spur
zu folgen, wie er das Wichtigere im Stich läßt und vielen Geschäften entsagt:
so setzt der, welcher dem Vergnügen nachjagt, alles [Andere ihm] nach, und
achtet vor Allem seine Freiheit nicht, sondern bringt sie dem Bauche zum Opfer,
und erkauft sich nicht Vergnügungen, sondern verkauft sich an sie.
XV.
(1.) »Was jedoch hindert, sagt man, Tugend und Vergnügen zu verschmelzen und
so das höchste Gut zu schaffen, daß Eins und Dasselbe zugleich sittlich gut
und angenehm sei?« - Weil ein Theil der sittlichen Vollkommenheit selbst nicht
anders, als sittlich gut sein kann, und höchste Gut die ihm eigenthümliche
Reinheit nicht besitzen wird, wenn es Etwas an sich bemerkt, was dem Edleren
unähnlich ist. Nicht einmal die Freude, welche aus der Tugend entspringt,
bildet, obgleich sie etwas Gutes ist, einen Theil des an und für sich Guten,
ebenso wenig, als Fröhlichkeit und Ruhe der Seele, auch wenn sie aus den
schönsten Ursachen hervorgehen. (2.) Dies sind nämlich allerdings Güter, aber
solche, die aus dem höchsten Gute entspringen, nicht aber dasselbe ausmachen.
Wer aber eine Verschmelzung von Tugend und Vergnügen bewirkt und nicht einmal
zu gleichen Theilen, der stumpft durch die Gebrechlichkeit des einen Gutes auch
alle Lebenskraft, die sich im andern findet, ab und bringt die Freiheit, die nur
dann unüberwindlich ist, wenn sie Nichts kennt, das größeren Werth hat, als
sie selbst, in Sklaverei. Denn - was eben die äußerste Knechtschaft ist - das
Glück fängt an ihr zum Bedürfniß zu werden; die Folge davon ist ein
ängstliches, verdachtvolles, vor Zufällen zitterndes und bebendes Leben; jeder
Augenblick ist voll banger Erwartung. (3.) Da gibst du der Tugend keinen festen,
unerschütterlichen Grund und Boden, sondern heißest sie auf einem wandelbaren
Standpunkt stehen. Was aber ist so wandelbar, als die Erwartung des Zufälligen
und die Veränderlichkeit des Körpers und der auf ihn einwirkenden Dinge? Wie
kann Einer der Gottheit gehorchen und Alles, was ihm auch begegnen mag, mit
ruhigem Gemüth aufnehmen, ohne bei günstiger Auslegung der ihn treffenden
Unfälle über sein Geschick zu klagen, wenn er durch die leisesten Berührungen
von Freuden und Leiden erschüttert wird?
Aber nicht einmal ein guter Beschützer und
Vertheidiger seines Vaters, noch ein Beschirmer seiner Freunde kann er sein,
wenn er [blos] den Vergnügungen nachhängt. (4.) Daher muß das höchste Gut
sich auf einen Punkt erheben, von wo es durch keine Gewalt herabgezogen werden
kann, wohin weder der Schmerz, noch die Hoffnung, noch die Furcht Zutritt hat,
noch irgend Etwas, was das Recht des höchsten Guts beeinträchtigen könnte.
Dahin aber kann sich einzig und allein die Tugend erheben; [nur] durch
Schritthalten mit ihr muß jene Anhöhe bewältigt werden; sie wird mannhaft
stehen und was auch kommen mag, nicht blos duldend, sondern selbst willig
ertragen, und überzeugt sein, daß jede schwierige Lage ein Naturgesetz sei.
(5.) Und wie ein braver Soldat seine Wunden ertragen, seine Narben aufzählen
und von Pfeilen durchbohrt noch sterbend den Feldherrn lieben wird, für den er
fällt: so wird er jenes alte Gebot im Herzen tragen: folge der Gottheit. Wer
aber klagt und weint und seufzt, wenn er das Befohlene thun soll, der wird
dennoch durch Gewalt dazu gezwungen und wider Willen zur [Ausführung] der
Befehle fortgerissen. Ist es aber nicht Unsinn, sich lieber hin schleppen zu
lassen, als willig zu folgen? (6.) Wahrlich, eben so, wie es Thorheit und
Verkennung seiner Lage ist, zu trauern, wenn dir etwas Härteres zustößt, oder
wenn du dich verwunderst und unwillig bist, daß du ertragen sollst, was Guten
wie Schlechten begegnet, ich meine Krankheiten, Todesfälle, Gebrechlichkeit und
was sonst Widerwärtiges in's menschliche Leben eindringt. Alles, was nach der
Einrichtung des Weltalls zu erdulden ist, laß uns mit hohem Geiste auf uns
nehmen; wir sind ja zu dem Schwure verpflichtet worden, das Loos der Sterblichen
zu ertragen und uns durch das nicht in Verwirrung setzen zu lassen, was zu
vermeiden nicht in unserer Macht steht. Wir sind in einem Königreiche geboren:
der Gottheit zu gehorchen, ist Freiheit.
XVI.
(1.) Also in der Tugend liegt die wahre Glückseligkeit. Welchen Rath nun wird
dir diese Tugend ertheilen? Daß du Nichts für ein Gut oder für ein Uebel
halten sollst, was dir weder durch Tugend, noch durch Lasterhaftigkeit zu Theil
werden kann; sodann, daß du unerschütterlich seiest, selbst einem aus dem
Guten hervorgehenden Uebel gegenüber, daß du dich, so weit dies erlaubt ist,
der Gottheit nachbildest. Was [aber] verheißt sie dir für dies Unternehmen?
Etwas
ungemein Großes und Göttergleiches. Du wirst zu Nichts gezwungen werden; du
wirst keines Menschen bedürfen; du wirst frei, sicher, schadlos sein; Nichts
wirst du vergebens versuchen, an Nichts wirst du verhindert sein; Alles wird dir
nach Wunsch gelingen, nichts Widerwärtiges wird dir begegnen, Nichts gegen
deine Erwartung und deinen Wunsch. (2.) Wie also? Genügt die Tugend, um
glückselig zu leben? Warum sollte sie, die vollendete und göttliche, nicht
genügen, ja mehr als genug sein? Denn was kann dir, der über jedes Verlangen
hinaus ist, fehlen? was braucht der von Außen, der alles Eigenthum in sich
selbst gesammelt hat? Dennoch ist dem, der nach der Tugend strebt, wenn er auch
schon weit vorgeschritten ist, manche Gunst des Schicksal nöthig, da er noch
mit menschlichen Verhältnissen ringt, bis er einmal jenen Knoten und jede
Fessel der Sterblichkeit löst. Worin also besteht der Unterschied? Darin, daß
Einige angebunden, Andere gefesselt, Andere auch noch geknebelt sind. Wer nach
Oben emporgedrungen ist und sich höher erhoben hat, trägt, zwar noch nicht
frei, aber doch schon so gut als frei zu achten, [nur] eine schlaffe Kette.
XVII. (1.) Da möchte nun Einer von denen, welche die Philosophie anbellen, wie sie zu thun pflegen, sagen: »Warum also sprichst du denn kräftiger, als du lebst? Warum ordnest du dich in deinen Worten einem Vornehmeren unter, achtest das Geld für ein dir nothwendiges Mittel, wirst durch einen Verlust beunruhigt, vergießest bei der Nachricht vom Tode deiner Gattin oder eines Freundes Thränen, achtest auf den Ruf und lässest dich durch boshafte Reden anfechten?
(2.) Warum ist dein Feld besser angebaut,
als es das natürliche Bedürfniß erheischt? warum speisest du nicht nach
deiner eigenen Vorschrift? warum hast du glänzenden Hausrath? warum wird bei
dir Wein getrunken, der älter ist, als du selbst? wozu wird er nach Jahrgängen
geordnet? wozu werden Bäume gepflanzt, die Nichts als Schatten geben werden?
warum trägt deine Frau das ganze Vermögen eines wohlhabenden Hauses an ihren
Ohren? warum ist deine Dienerschaft in so kostbare Kleider gehüllt? warum ist
es eine Kunst, bei dir aufzuwarten, und warum wird das Silbergeräth nicht so
zufällig und wie es gerade beliebt, aufgestellt, sondern [bei Tische]
kunstgerecht aufgewartet? und warum gibt es [bei dir] einen Meister in der Kunst
das Fleisch zu zerlegen?« (3.) Füge, wenn du willst, noch hinzu: »Warum hast
du Besitzungen jenseits des Meeres? warum mehr, als du kennst? Zu deiner Schande
bist du entweder so nachlässig, daß du deine wenigen Sklaven nicht kennst,
oder so verschwenderisch, daß du eine größere Anzahl hast, als daß dein
Gedächtniß ausreichte, sie zu kennen.« Ich will dir [selbst] später noch
helfen; ich will mir [selbst] Vorwürfe machen, und mehr, als du glaubst: für
jetzt antworte ich dir [nur] Folgendes: Ich bin kein Weiser und - um deinem
Uebelwollen noch Nahrung zu geben - werde es auch nie sein. (4.) Fordere also
von mir nicht, daß ich den Besten gleich sei, sondern [nur] besser, als die
Schlechten. Das ist mir [schon] genug, wenn ich täglich Etwas von meinen
Fehlern ablege und mir meine Verirrungen vorwerfe. Ich bin noch nicht zur
Gesundheit gelangt und werde auch nicht dazu gelangen; ich bereite mir mehr
Linderungs als Heilmittel für mein Podagra, zufrieden damit, wenn es mich
seltener befällt und weniger sticht. Freilich mit eurem Fußwerk verglichen bin
ich Gebrechlicher [noch] ein Läufer.
XVIII.
(1.) Das spreche ich nicht in meinem Namen, denn ich treibe [noch] auf dem Meere
aller Laster; sondern im Namen eines Solchen, der schon Etwas ausgerichtet hat.
»Anders, sagt man, sprichst, anders lebst du.« Dies, ihr böswilligen und
gerade den Trefflichsten am feindlichsten gesinnten Menschen, hat man dem Plato,
dem Epikur, dem Zeno vorgeworfen. Denn diese alle sprachen ja nicht davon, wie
sie selbst lebten, sondern wie man leben sollte.
Von der Tugend spreche ich, nicht von mir,
und wenn ich die Laster schmähe, so schmähe ich zuerst meine eigenen: wenn ich
es im Stande sein werde, werde ich schon so leben, wie man soll. (2.) Und jene
tief in Gift getauchte Böswilligkeit soll mich nicht von dem Trefflichsten
abschrecken; selbst jenes Gift, womit Ihr Andere bespritzet, Euch [selbst aber]
tödtet, soll mich nicht hindern fortzufahen ein Leben zu preisen, nicht wie ich
es führe, sondern wie ich weiß, daß es geführt werden müsse, noch der
Tugend, wenn auch in gewaltigem Abstande, wankend nachzugehen. (3.) Soll ich
denn etwa erwarten, daß irgend Etwas von der Böswilligkeit unangetastet bleibe,
welcher weder ein Rutilius noch ein Cato heilig war? Warum sollte nicht Leuten,
denen [selbst] der Cyniker Demetrius nicht arm genug ist, Jemand allzu reich
vorkommen? Der äußerst strenge Mann, der gegen alle Bedürfnisse der Natur
kämpfte, der ärmer war, als alle übrigen Cyniker, weil er, wenn er sich Etwas
zu besitzen versagte, es sich auch zu wünschen verbot, der, sagen sie, sei
nicht arm genug gewesen. Siehst du wohl? er ist nicht [nur] als Lehrer der
Tugend, sondern [auch] der Armuth aufgetreten.
XIX.
(1.) Man sagt, Diodorus, ein Epikurischer Philosoph, der vor wenigen Tagen
seinem Leben mit eigener Hand ein Ende machte, habe nicht nach Epikur's
Grundsätzen gehandelt, als er sich die Kehle abschnitt. Die Einen wollen seine
That für Wahnsinn angesehen wissen, die Andern für Unbesonnenheit. Er indessen
hat glückselig und voll guten Gewissens, als er vom Leben schied, sich selbst
ein Zeugniß ausgestellt und die Ruhe eines im Hafen und vor Anker liegend
geführten Lebens gepriesen, indem er - was Ihr ungern hört, als müßtet ihr
es auch so machen - sagte: Nun denn, ich habe gelebt und die Bahn des Geschickes
vollendet.
(2.)
Ihr schwatzet über das Leben des Einen und über den Tod des Andern und bellt
den Namen großer, durch irgend ein außerordentliches Lob ausgezeichneter
Männer an, wie kleine Hunde, wenn ihnen unbekannte Leute in den Weg kommen.
Denn es kommt Euch zu statten, wenn Niemand als gut erscheint, als ob fremde
Tugend ein Vorwurf für eure Vergehungen wäre. Neidisch stellt Ihr das
Strahlende neben Euern Schmutz und sehet nicht ein, mit welchem Nachtheil für
Euch Ihr Solches wagt. Denn wenn die, welche der Tugend folgen, habsüchtig,
wolllüstig, ehrgeizig sind, was seid dann Ihr, denen sogar der Name der Tugend
verhaßt ist? Ihr behauptet, es leiste Keiner das, was er anpreise, und es lebe
Keiner nach dem Muster seiner Reden. (3.) Was Wunder, da sie von heldenmüthigen,
ungeheuern, alle Stürme des Menschenlebens überdauernden Thaten sprechen? da
sie sich von dem Kreuze loszumachen streben, in welches Jeder von Euch selbst
seine Nägel einschlägt? Zum Tode geschleppt, hängt doch Jeder von ihnen nur
an einem Pfahle. Diejenigen aber, die selbst Strafe über sich verhängen, sind
an eben so vielen Kreuzen ausgespannt, als Leidenschaften an ihnen zerren; und
ihre bösen Zungen sind beim Lästern Anderer sehr witzig. Ich möchte glauben,
sie würden das bleiben lassen, wenn nicht Manche noch vom Galgen herab die
Zuschauer anspuckten.
XX.
(1.) Die Philosophen leisten nicht, was sie vortragen. Viel jedoch leisten sie [schon
dadurch], daß sie es vortragen, daß sie das Sittlichgute im Geiste erfassen.
Denn freilich wenn sie ganz dem gleich handelten, was sie sprechen, was gäbe es
dann Glückseligeres, als sie? Inzwischen hat man keinen Grund, treffliche Worte
und Herzen voll guter Gedanken zu verachten. Die Betreibung heilsamer Studien
ist auch ohne thatsächliche Wirkung zu loben. Was Wunder, wenn die, welche sich
an steile Höhen gewagt haben, den Gipfel nicht erreichen? Doch wenn du ein Mann
bist, so achte die, welche Großes versuchen, auch wenn sie fallen. (2.) Es ist
ein edles Unternehmen, nicht seine Kräfte, sondern die seines Wesens
[überhaupt] berücksichtigend Hohes zu wagen, zu versuchen, und im Geiste noch
Größeres sich vorzunehmen, als selbst von den mit einem gewaltigen Geiste
Ausgerüsteten vollführt werden kann. Wer folgenden Vorsatz fast: »Ich will
mit derselben Miene den Tod [mir ankündigen] hören, womit ich ihn [bei
Anderen] anschaue; ich will mich Mühsalen, wie groß sie auch sein mögen,
unterziehen, den Körper durch den Geist stützend; ich will Reichthümer,
sowohl vorhandene, als mir abgehende, auf gleiche Weise verachten, weder traurig,
wenn sie wo anders [aufgehäuft] liegen, noch muthiger, wenn sie um mich her
schimmern; ich werde es nicht merken, mag das Glück kommen oder entweichen; ich
will alle Ländereien als mir, die meinigen als Allen gehörig betrachten; ich
will so leben, als wüßte ich, ich sei für Andere geboren, und der Natur
dafür danken; (3.) denn auf welche andere Art konnte sie besser für mich
sorgen? Mich, den Einzelnen, hat sie Allen, mir, dem Einzelnen, Alle geschenkt.
Alles, was ich besitze, will ich weder auf schmutzige Weise hüten, noch
verschwenderisch verstreuen; ich will Nichts auf andere Weise zu besitzen
glauben, denn als ein gütiges Geschenk; ich will meine Wohlthaten weder nach
Zahlen noch Summen und nach keinem andern Werthe, als der Empfänger [ihnen
beilegt], schätzen; nie soll mir das Viel sein, was ein Würdiger empfängt;
Nichts will ich der Meinung, Alles meiner Ueberzeugung wegen thun, und Alles vor
den Augen des Volks zu thun glauben, was ich [nur] mir bewußt thue. (4.)
Die Stillung des Naturbedürfnisses soll für mich das Ziel des Essens und
Trinkens sein, nicht das Anfüllen und Entleeren des Magens. Gefällig
gegen Freunde, mild und nachgiebig gegen Feinde, will ich mich erbitten lassen,
noch ehe ich gebeten werde; anständigen Bitten will ich entgegen kommen. Ich
will mir bewußt sein, mein Vaterland sei die [ganze] Welt und seine Vorsteher
die Götter, die über mir und um mich her stehen als Richter meiner Thaten und
Worte. Wann aber einmal entweder die Natur das Leben zurückfordern, oder mein
Entschluß es hingeben wird, so werde ich mit dem Zeugnisse abtreten, daß ich
ein gutes Gewissen und edle Bestrebungen geliebt habe und daß Niemandes
Freiheit durch mich beschränkt worden sei, am wenigsten meine eigene«.
XXI.
(1.) Wer [sage ich] so zu handeln sich vornimmt, entschlossen ist und den
Versuch dazu macht, nimmt seinen Weg zu den Göttern, und wahrlich, wenn er auch
nicht darauf bleibt, »schlägt doch rühmliches Wagniß ihm fehl«. Ihr
freilich, die ihr die Tugend und ihre Verehrer hasset, thue nichts Ungewöhnliches;
denn auch kranke Augen scheuen ja die Sonne und Thieren der Nacht ist das glänzende
Tageslicht zuwider, bei dessen erstem Anbruch sie stutzen und allenthalben ihre
Schlupfwinkel aufsuchen und lichtscheu in irgend eine Spalte sich verbergen. Seufzet
und übet eure unselige Zunge im Schmähen der Guten; schnappet und beißet nach
ihnen: ihr werdet viel eher eure Zähne abbrechen als eindrücken. (2.)
»Warum [saget ihr] ist jener ein Jünger
der Philosophie und lebt doch als ein so Reicher? warum erklärt er Reichthümer
für verächtlich und besitzt sie doch? das Leben für verächtlich und lebt
doch? die Gesundheit für verächtlich und pflegt sie doch auf's sorgfältigste
und wünscht sich die beste? Auch die Verbannung hält er für ein leeres Wort
und sagt: Was ist es denn für ein Unglück, die Gegend zu wechseln? und
gleichwohl wird er, wo möglich, im Vaterlande zum Greise. Auch zwischen
längerer und kürzerer Zeit, meint er, sei kein Unterschied: und doch
verlängert er, wenn ihn Nichts hindert, seine Lebenszeit und sieht sich noch in
hohem Alter mit Vergnügen frisch.« (3.)
Ja, er erklärt, man müsse jene Dinge
verachten, nicht damit man sie [überhaupt] nicht besitze, sondern damit man sie
nicht mit Angst besitze; er scheucht sie icht von sich hinweg, aber wenn sie ihn
verlassen, sieht er ihnen sorglos nach. Reichthum zum Beispiel - wo soll ihn das
Glück sichrer niederlegen, als da, wo er ihn ohne Klage des Zurückgebenden
wieder abholen kann? Als Marcus Cato den Curius und Coruncanius und jenes
Zeitalter pries, wo der Besitz von einigen Silberblechlein ein vom Censor zu
ahndendes Verbrechen war, besaß er selbst vier Millionen Sesterzien, ohne
Zweifel weniger als Crassus, aber mehr, als Cato Censorius; wenn man sie aber
vergleicht, so übertraf er seinen Urgroßvater um eine viel rößere Summe [des
Vermögens], als er vom Crassus bertroffen wurde. Und wenn ihm noch größere
Schätze zugefallen wären, er würde sie nicht verachtet aben; denn der Weise
achtet sich keinerlei Gaben des Zufalls unwerth. Er liebt die Reichthümer
nicht, aber er zieht sie [der Armuth] vor; er nimmt sie nicht in seine Seele,
wohl aber in sein Haus auf, und er verschmäht sie nicht, wenn er sie besitzt,
sondern hält sie zusammen und wünscht, daß seiner Tugend größere Mittel
dargeboten werden.
XXII.
(1.) Kann aber ein Zweifel sein, daß ein Weiser im Reichthume größere Mittel
besitzt seine Gesinnung zu entfalten, als in der Armuth? da ja bei dieser nur
die eine Seite der Tugend sich äußern kann, sch nicht beugen und
niederdrücken zu lassen, im Reichthum aber die Mäßigung, die Freigebigkeit,
die Wirthschaftlichkeit, die gute Eintheilung und die Großherzigkeit sich ein
weites Feld eröffnet sieht. Der eise wird sich nicht verachten, wenn er auch
von der kleinsten Statur ist: aber er wird doch wünschen, hohen Wuchses zu
sein; auch schwächlichen Körpers und nach Verlust eines Auges wird er sich
wohl befinden, wird aber dennoch Körperstärke zu besitzen wünschen, (2.)
jedoch so, daß er weiß, es gebe in ihm noch etwas Stärkeres. Kränklichkeit
wird er ertragen, aber Gesundheit wünschen. Manches nämlich trägt, obgleich
es für das Wesentliche der Sache geringfügig st und ohne Vernichtung des
Hauptgutes hinweggenommen werden kann, doch Etwas zu einer beständigen und aus
der Tugend entspringenden Freudigkeit bei. Reichthum stimmt und erheitert den
Weisen so, wie den Schiffenden günstiger Fahrwind, wie ein schöner Tag und ein
sonniger Ort in Winterszeit und Frost. (3.) Wer von den Weisen ferner, ich
spreche von den Unsrigen, denen die Tugend für das einzige Gut gilt, leugnet,
daß auch das, was wir gleichgültige Dinge nennen, einen gewissen inneren Werth
habe und daß Eins wichtiger ist, als das Andere? Einigen davon wird etwas,
Anderen viel Ehre erwiesen. Damit u also nicht irrest, Reichthum gehört zu den
wichtigern Dingen. (4.) »Warum also, sagst du, verlachst du ich, da er bei dir
denselben Rang einnimmt, wie bei mir?« Willst du erfahren, wie er [bei mir] so
gar nicht denselben Rang einnimmt? Mir wird der Reichthum, ach wenn er schwindet,
Nichts entführen, als sich selbst: du [aber] wirst erstarrt sein und dir
vorkommen, als seist du ohne dich selbst zurückgeblieben, wenn er von dir
gewichen ist. Bei mir nimmt der Reichthum [allerdings] einen gewissen Rang ein,
bei dir [aber] den höchsten und bedeutendsten; ich bin im Besitz des Reichthums,
dich [aber] hat der Reichthum m Besitz.
XXIII.
(1.) Höre also auf den Philosophen [den Besitz] des Geldes zu verbieten: noch
Niemand hat die Weisheit zur Armuth verdammt. Ein Philosoph mag reiche Schätze
besitzen, aber solche, die keinem [Andern] entzogen, nicht mit fremdem Blute
befleckt, ohne Unbill gegen irgend Einen und ohne schmutziges Geschäft erworben
sind, deren Verausgabung eben so ehrenhaft ist, als ihr Zufluß, über die
Niemand seufzt, als ein Uebelwollender. Häufe sie, so hoch du willst: sie sind
ehrenhaft; und wenn auch Vieles dabei ist, was ein Jeder sein nennen möchte, so
findet sich doch Nichts darunter, was Jemand sein Eigenthum nennen könnte. (2.)
Er wird allerdings die Wohlthätigkeit des Schicksals nicht von sich weisen und
eines ehrlich erworbenen Vermögens sich weder rühmen, noch schämen. Und doch
wird er auch einen Grund haben, sich desselben zu rühmen, wenn er, bei offnem
Hause und Zulassung der ganzen Stadt zu seinen Gütern, sprechen kann: »Was
Jeder als das seine erkennt, mag er wegnehmen.« O des großen und aufs
Würdigste reichen Mannes, wenn er nach diesem Aufruf noch eben so viel besitzt;
ich meine so: wenn er ruhig und sicher dem Volke das Durchsuchen [seiner Habe]
gestatten konnte, wenn Niemand Etwas bei ihm gefunden hat, woran er Hand legen
konnte, dann mag er kecklich und offenkundig ein Reicher sein. (3.) Der Weise
wird keinen Groschen über seine Schwelle kommen lassen, der auf unrechte Weise
einginge; er wird aber ebenso auch große Schätze als ein Geschenk des Glücks
und als eine Frucht seiner Tugend nicht verschmähen, noch ihnen den Zutritt
versagen.
Denn warum sollte er ihnen einen so guten
Platz mißgönnen? Mögen sie kommen, mögen sie als Gäste einkehren. Er wird
weder mit ihnen prunken, noch sie verstecken. Das Eine beweißt eine alberne,
das Andere eine furchtsame und kleinliche Seele, als hielte sie ein großes Gut
im Schooße. Er wird sie auch, wie ich schon sagte, nicht zum Hause hinauswerfen.
Denn was sollte er dabei sagen? Etwa: »Ihr seid unnütz,« oder: »Ich verstehe
es nicht, den Reichthum zu gebrauchen?« (4.) So wie er, auch wenn er einen Weg
zu Fuß machen kann, doch lieber einen Wagen besteigen wird: so wird er, wenn
er, ein Armer, reich werden kann, allerdings Schätze wünschen und besitzen,
aber als eine unbeständige und leicht wieder entfliehende Sache, und nicht
zulassen, daß sie weder irgend einem Andern, noch ihm selbst drückend werden.
Wie d? Er wird Schenkungen machen, Was spitzt ihr die Ohren? was öffnet ihr die
Taschen? Er wird Schenkungen machen entweder an Gute oder an solche, die er gut
machen kann. Er wird Schenkungen machen, indem er mit größter Ueberlegung die
Würdigsten auswählt, weil er sich erinnert, daß man sowohl von dem
Ausgegebenen, als dem Eingenommenen Rechenschaft geben muß. Er wird Schenkungen
machen aus rechten und löblichen Beweggründen; denn wo es uf schändliche
Weise weggeworfen wird, ist ein Geschenk übel angebracht. Er wird offene, aber
nicht durchlöcherte Taschen haben, aus denen Vieles herasgeht, aber Nichts
herausfällt.
XXIV.
(1.) Man irrt, wenn man glaubt, daß Schenken eine leichte Sache sei. Es hat
große Schwierigkeiten, wenn man anders mit Ueberlegung gibt, nicht nach Zufall
und Laune verschleudert. Um den Einen mache ich mich verdient, dem Andern gebe
ich [nur]; dem Einen springe ich bei und erbarme mich seiner; den Andern
beschenke ich, weil er es verdient, daß ihn die Armuth nicht herabwürdige und
im Drucke halte. Manchen werde ich Nichts geben, auch wenn es hnen fehlt; weil
es ihnen, auch wenn ich gegeben hätte, [bald wieder] fehlen würde; Manchen [dagegen]
werde ich es anbieten, Manchen sogar aufdringen. Ich ann hierin nicht
nachlässig verfahren: niemals leihe ich mehr aus, als wenn ich schenke. (2.)
»Wie? sagst du, du schenkst, um es wieder zu verlangen?« Nein, um es nicht
verloren zu geben. Mein Geschenk sei da niedergelegt, von wo es nicht
zurückgefordert zu werden braucht, aber zurückgegeben werden kann. Eine
Wohlthat muß so angebracht werden, wie ein tief vergrabener Schatz, den man
nicht ausgräbt, es müßte denn nothwendig sein. Wie? Das
Haus des reichen Mannes selbst - wie viel Gelegenheit hat es wohlzuthun! Denn
wer beschränkt die Freigebigkeit blos römische Bürger? Den Menschen
[überhaupt] zu nützen, befiehlt die Natur; ob es Sklaven oder Freie sind,
Freigeborne oder Freigelassene, von gesetzlich erworbener, oder [nur] unter
Freunden geschenkter Freiheit, elchen Unterschied macht das? Wo immer ein Mensch
sich findet, da hat eine Wohlthat ihre Stelle.
(3.) Er kann daher sein Geld auch innerhalb
seiner Schwelle verschenken und Freigebigkeit üben, die ihren Namen nicht davon
hat, weil man Freien gibt, sondern weil sie aus einer freien Seele entspringt.
Diese wird bei dem Weisen nie Schändlichen
und Unwürdigen an den Hals geworfen, noch wird sie auf Irrwegen so erschöpft,
daß sie nicht, wenn sie einen Würdigen findet, gleichsam aus dem Vollen
strömen könnte. Ihr dürft also nicht falsch verstehen, was die Jünger der
Weisheit so edel, muthig und beherzt sagen; und merket zuerst darauf: (4.) Etwas
Anderes ist Einer, der sich der Weisheit befleißigt, etwas Anderes Einer, der
sie schon erlangt hat. Jener wird dir sagen: Ich spreche sehr schön, aber ich
treibe mich noch unter vielem Schlechten herum; du darfst mich nicht nach meiner
Regel [lebend] verlangen; ich arbeite eben noch an mir und bilde und erhebe mich
nach einem hohen Vorbilde; bin ich erst so weit fortgeschritten, als ich mir
vorgesetzt habe, dann verlange, daß meine Handlungen meinen Reden entsprechen.
Wer aber das Höchste der menschlichen Güter bereits rreicht hat, wird anders
mit dir verhandeln und sagen: Zuerst hast du gar kein Recht, dir ein Urtheil
über Bessere zu erlauben: mir [aber] ist es bereits geglückt den Schlechten zu
mißfallen, was ein Beweis des Rechten ist. (5.) Doch, um dir Rechenschaft zu
geben, was ich Keinem der Sterblichen verweigere, so öre, was ich verheiße und
wie hoch ich jede Sache anschlage. Ich leugne, daß Reichthum ein Gut sei: denn
wäre er es, so würde er die Menschen gut machen. Weil nun aber, was sich bei
Schlechten findet, kein Gut genannt werden kann, so versage ich ihm diesen
Namen. Übrigens gestehe ich, daß man ihn besitzen darf, daß er nützlich ist
und dem Leben viele Vortheile bringt.
XXV.
(1.) Wie nun weiter? Vernehmet jetzt, warum ich ihn nicht unter die
Güter rechne, und was ich Anderes damit ausrichte, als ihr, weil wir nun einmal
Beide darin übereinstimmen, daß man ihn besitzen dürfe. Stelle mich in das
reichste Haus, stelle mich dahin, wo Gold- und Silber[geschirr] in gewöhnlichem
Gebrauche ist; ich werde mir auf jene Dinge Nichts einbilden, die, wenn sie auch
bei mir, doch außerhalb meiner sind. Versetze mich auf die Pfahlbrücke und
stoße mich unter die Bettler: ich werde mich deshalb doch nicht verachten, weil
ich in der Zahl derer sitze, die ihre Hand nach einem Almosen ausstrecken. Denn
was liegt daran, ob mir der Bissen Brod fehle, da mir nicht [der Glaube] fehlt,
daß ich sterben kann? Wie also steht es? Jenes glänzende Haus ist mir lieber,
als die Brücke. (2.) Stelle mich hin zwischen glänzenden Hausrath und üppigen
Prunk: ich werde mich um Nichts glücklicher dünken, weil ich eine reiche
Hülle trage, und meinen Gästen Purpurteppiche unterbreitet werden. Ich werde [aber
auch] um Nichts elender sein, wenn mein müder Nacken auf einem Heubündel ruht,
wenn ich auf einem Polster des Circus liege, wo durch die Nähte der alten
Leinwand das Flockwerk herausbringt. Wie verhält sich's also? Ich will lieber
in verbrämtem Kleide und Mantel zeigen, welche Gesinnung ich habe, als mit
nackten oder nur halbbedeckten Schultern. (3.) Möge mir jeder Tag nach Wunsch
verfließen, mögen sich neue Freudenfeste an die früheren reihen: ich werde
deshalb nicht wohlgefällig auf mich blicken. Laß sich diese Gunst der
Verhältnisse in's Gegentheil verwandeln; möge von allen Seiten her mein
Gemüth von Verlusten, Trauerfällen, mancherlei Angriffen erschüttert werden,
möge keine Stunde ohne irgend eine Klage sein: ich werde mich deshalb unter dem
größten Elend doch nicht elend nennen, deshalb keinen Tag verwünschen; denn
es ist von mir dafür gesorgt worden, daß mir kein Tag ein unglückseliger sei.
Wie also steht es? Ich will mich lieber in der Freude mäßigen, als den Schmerz
unterdrücken.
(4.) So wird der berühmte Sokrates zu dir
sprechen: »Mache mich zum Besieger aller Nationen; jener prachtvolle Wagen des
Bacchus trage mich im Triumphe vom Sonnenaufgang nach Thebä [zurück], Könige
mögen mich um das Recht der Penaten bitten: dann gerade will ich am meisten
bedenken, daß ich ein Mensch bin, wenn man mich überall als einen Gott
begrüßt.« Mit dieser schwindelnden Höhe stelle auf einmal eine jähe
Wandelung zusammen: ich soll auf eines Andern Tragsessel gesetzt werden, um den
Triumphzug eines übermüthigen und rohen Siegers zu verherrlichen: nicht
niedriger werde ich sein, vor dem Wagen eines Andern hergetrieben, als ich auf
dem meinigen stand. (5.) Wie also steht es? Dennoch will ich lieber Sieger, als
Gefangener sein. Das ganze Reich des Glücks laß mich verachten: und doch werde
ich, wenn mir die Wahl gelassen wird, das Bessere daraus erwählen. Alles, was
mir zukommen mag, wird gut sein; und doch wünsche ich lieber, daß mir
Leichteres und Angenehmeres begegne und was dem, der damit zu thun hat, weniger
zu schaffen macht.
Denn du darfst nicht glauben, daß irgend
eine Tugend ohne Anstrengung sei; aber einige Tugenden bedürfen der Sporen,
andere des Zügels. Wie der Körper an einem jähen Abhang zurückgehalten,
einer schroffen Abhöhe gegenüber angetrieben werden muß: so stehen einige
Tugenden über einem jähen Abhange, andere unten an einer Anhöhe. (6.) Ist es
nun wohl zweifelhaft, daß Geduld, Seelenstärke, Ausdauer und welche Tugenden
sonst noch sich den Widerwärtigkeiten entgegenzustellen und das Schicksal zu
überwinden haben, emporstreben, sich dagegen stemmen und ankämpfen sollen?
Wie? ist es nicht eben so offenbar, daß die Freigebigkeit, die Mäßigung und
Sanftmuth eine abschüssige Bahn geht? Bei diesen nehmen wir das Gemüth
zusammen, damit es nicht vorwärts stürze, bei jenen ermuntern und spornen wir
es. Bei der Armuth müssen wir also jene entschlossensten [Tugenden] anwenden,
die standhaft zu kämpfen verstehen, beim Reichthume [dagegen] jene
vorsichtigern, die mit leisem Schritt auftreten und das eigene Gewicht hemmen.
XXVI.
(1.) Da nun einmal diese Theilung besteht, so will ich lieber von denjenigen [Tugenden]
Gebrauch machen, die sich ruhiger üben lassen, als von denen, worin der Versuch
Blut und Schweiß kostet.
So lebe ich also, sagt der Weise, nicht
anders, als ich rede, aber ihr versteht es anders. Nur der Klang der Worte
bringt zu euern Ohren; was sie aber bedeuten, darnach fragt ihr nicht. Welcher
Unterschied ist also zwischen mir, dem Thoren, und dir, dem Weisen, wenn wir
Beide zu besitzen wünschen? Ein gar großer. Bei dem Weisen nämlich steht der
Reichthum in Dienstbarkeit, bei dem Thoren übt er die Herrschaft.
Der Weise gestattet dem Reichthum Nichts,
euch gestatten die Reichthümer Alles. (2.) Ihr gewöhnt und hänget euch daran,
als ob euch Jemand den ewigen Besitz derselben versprochen hätte; der Weise
denkt gerade dann am meisten über die Armuth nach, wenn er mitten im Reichthum
sitzt. Nie traut ein Feldherr so dem Frieden, daß er sich nicht auf den Krieg
gefaßt mache, der, wenn er auch [noch] nicht geführt wird, doch erklärt ist.
Euch Uebermüthige setzt ein schönes Haus außer euch, als ob es nicht
verbrennen oder einstürzen könnte, euch Schätze, als ob sie über alle Gefahr
hinaus und größer wären, als daß das Geschick Macht genug hätte, sie zu
verzehren. (3.) Sorglos spielt ihr mit eurem Reichthum und trefft keine
Vorkehrungen gegen die ihm drohenden Gefahren, so wie Barbaren, wenn sie
eingeschlossen und ohne Kenntniß der Kriegsmaschinen sind, der Arbeit der
Belagerer meist lässig zuschauen und nicht begreifen, worauf jene, die in der
Ferne aufgestellt werden, abzielen.
Dasselbe begegnet euch; ihr träumet hin in
eurem Besitze und bedenket nicht, wie viele Unfälle von allen Seiten her drohen,
welche jeden Augenblick kostbare Beute davontragen können. Wer dem Weisen
seinen Reichthum nimmt, wird ihm doch das Seinige alles lassen; denn er lebt der
Gegenwart, froh und unbekümmert um die Zukunft. (4.) »Ich habe mich, sagt
Sokrates oder irgend ein Anderer, der gegen menschliche Zufälle dieselbe Macht
und Gewalt hat, von Nichts mehr überzeugt, als daß ich meinen Lebensweg nicht
nach euern Meinungen bestimmen darf. Bringet von überall her eure gewohnten
Worte herbei: ich werde nicht glauben, daß ihr schmähet, sondern gleich
elenden Kindern wimmert.« So wird der Mann sprechen, dem Weisheit zu Theil
geworden ist, dem sein von Gebrechen freies Gemüth auf Andere schelten heißt,
nicht weil er sie haßt, sondern zur Abwehr.
(5.) Diesem wird er noch Folgendes beifügen:
»Eure
Achtung kümmert mich nicht meinet-, sondern euretwegen, weil Ungemach zu hassen
und die Tugend anzutasten ein Aufgeben [jeder] guten Hoffnung ist. Ihr thut mir
kein Unrecht an, eben so wenig als den Göttern diejenigen, welche ihre Altäre
umstürzen; allein euer böser Vorsatz und euer böser Rathschluß wird auch da
offenbar, wo er nicht schaden konnte. Eure Faseleien ertrage ich ebenso, wie der
allgütige Jupiter die Albernheiten der Dichter, von denen der Eine ihm Flügel
beigelegt hat, ein Anderer Hörner, (6.) der Eine ihn als Ehebrecher und
Nachtschwärmer aufgeführt hat, ein Anderer als grausam gegen die Götter, ein
Anderer als unbillig gegen die Menschen, der Eine als Verführer geraubter und
obendrein mit ihm verwandter Freigeborenen, ein Anderer als Vatermörder und
Eroberer eines fremden und zwar väterlichen Reiches. Dadurch aber ist nichts
Anderes bewirkt worden, als daß den Menschen die Scheu vor dem Sündigen
benommen ward, wenn sie an solche Götter glaubten. Doch obgleich mich Jenes
nicht verletzt, so ermahne ich euch doch um euretwillen: (7.) Achtet die Tugend,
glaubet denen, die, nachdem sie der Tugend lange nachgestrebt haben, euch
zurufen, daß sie nach etwas Großem und von Tag zu Tag größer Erscheinendem
streben, und ehret die Tugend selbst wie die Götter und ihre Bekenner wie deren
Priester; und so oft dieses heiligen Namens Erwähnung geschieht, hütet eure
Zunge! Dieser Spruch ist nicht, wie die Meisten glauben, von ›Gunst‹
herzuleiten, sondern es wird damit Stillschweigen geboten, damit das Opfer gehörig
vollbracht werden könne, ohne daß irgend ein unheilvolles Wort dabei sich hören
lasse.«
XXVII.
(1.) Und es ist viel nöthiger, daß euch befohlen werde, so oft ein Ausspruch
von jenem Orakel gethan wird, achtsam und mit Zurückhaltung jedes Lautes
zuzuhören.
Wenn Einer, die Klapper schüttelnd, nach Vorschrift Lügen vorträgt, wenn ein
Meister im Einschneiden in die Arme mit erhobener Hand Arme und Schultern von
Blut triefen läßt, wenn Einer, auf dem Wege hin kriechend heult und ein Greis,
in Linnen gekleidet, und einen Lorbeerzweig nebst einer Leuchte am hellen Tage
einhertragend, ruft, es sei irgend einer der Götter erzürnt: so lauft ihr
zusammen und horcht und versichert, gegenseitig Einer des Anern Betäubung
nährend,
der Mann sei [sicherlich] ein Gottbegeisterter. (2.) Siehe, Sokrates ruft laut
aus jenem Kerker, den er durch seinen Eintritt reinigte und geehrter, als jede
Curie, machte: »Was ist das für Raserei? was ist das für Göttern und
Menschen feindseliges Wesen, die Tugend zu verunglimpfen und am Heiligen durch böswillige
Reden zu freveln?
Wenn ihr es könnt, so preiset die Guten, wo
nicht, so
gehet vorüber. Gefällt es euch, eure schändliche Frechheit auszulassen, so
gehet Einer auf den Andern los; denn wenn ihr gegen den Himmel raset, so sage
ich zwar nicht, daß ihr einen Frevel gegen das Heilige begeht, wohl aber, daß
ihr eure Mühe verschwendet. Ich gewährte einst dem Aristophanes Stoff über
mich zu scherzen; jene ganze Schaar der Lustspieldichter hat ihren giftigen Witz
über mich ausgegossen. (3.) Doch meine Tugend ward gerade durch das in's
hellste Licht gestellt, womit sie angegriffen wurde; denn es frommt ihr
hervorgezogen und geprüft zu werden, und Niemand erkennt besser, wie groß sie
sei, als wer ihre Kraft durch Angriffe auf sie zu fühlen bekam.
Die Härte des Kiesels ist Niemandem besser
bekannt, als
den darauf Schlagenden. Ich zeige mich nicht anders, als ein in seichtem Meere
verlassen dastehender Felsen, den die Wogen, woher sie auch immer aufgeregt
werden, nie zu schlagen rasten, und den sie deshalb doch nicht von der Stelle rücken
oder durch ihr häufiges Anprallen während so vieler Menschenalter verzehren.
(4.) Springet auf mich los, machet einen Angriff: ich werde euch durch sein
Aushalten besiegen. Alles, was auf Festes und Unüberwindliches einstürmt, übt
seine Kraft zu eigenem Verderben. Nun denn, so suchet euch einen weichen und
nachgebenden Stoff, worin eure Geschosse haften. Und euch beliebt die Gebrechen
Anderer aufzuspüren und über Jemanden ein Urtheil zu fällen? Warum
[fragt ihr] wohnt dieser Philosoph so geräumig, warum speist dieser so köstlich?
[Selbst] mit einer Menge von Geschwüren bedeckt bemerkt ihr jedes Hitzbläschen
an Andern. (5.) Das ist gerade so, wie wenn Einer, den verderbliche Krätze
verzehrt, Muttermale oder Warzen an den [übrigens] schönsten Körpern
verspottet.
Macht es dem Plato zum Vorwurfe, daß er Geld verlangt
habe, dem Aristoteles, daß er es genommen, dem Demokrit, daß er es
geringgeschätzt,
dem Epikur, daß er es verthan; mir selbst werft [meine Liebe zu] Alcibiades und
Phädrus vor. (6.) O wie wäret ihr doch in der That glücklich zu preisen, wenn
es euch nur erst gelungen wäre unsere Fehler nachzuahmen! Warum betrachtet ihr
nicht lieber eure eigenen Gebrechen, die euch von allen Seiten stechen, einige
von Außen wüthend, andere in den Eingeweiden selbst brennend? So steht es mit
den menschlichen Verhältnissen nicht; auch wenn ihr euern Zustand zu wenig
kennt und Zeit genug haben solltet, eure Zunge zur Schmähung der Besseren in
Bewegung zu setzen.«
XXVIII.
Das sehet ihr nicht ein und traget eine eurem Zustande nicht entsprechende Miene, sowie
Viele, die, während sie ruhig im Circus oder im Theater sitzen,
schon eine Leiche und einen unangekündigten Unfall im Hause haben. Ich
dagegen, von meiner Höhe herabschauend, sehe, welche Ungewitter euch entweder
drohen, indem sie nur etwas langsamer ihren Wolkenschleier zerreißen, oder
schon näher an euch herangekommen sind, um euch und eure Habe hinwegzuraffen. Und
wie? Treibt nicht auch jetzt, auch wenn ihr es nicht deutlich gewahr werdet, ein
Wirbelwind eure Seelen im Kreise herum und hüllt sie ein, indem ihr das Nämliche
zugleich fliehet und suchet und bald in die Höhe gehoben, bald in die Tiefe
geschmettert werdet?...
[Der Schluß fehlt].
Seneca: Vom glückseligen Leben
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